Lieber Mensch,
die Psychologen Andrew Hafenbrack und Kathleen Vohs versuchen in einer Studie zu zeigen, Achtsamkeitsmeditation wirkt, aber nicht so, wie es sich Arbeitsehrgeizlinge wünschen. Die Entspannungstechnik reduziere nämlich die Motivation, Aufgaben anzupacken - egal ob diese lästig oder angenehm seien. Und auch entspannte Menschen brauchen Antrieb, wenn sie nach der nächsten Sprosse auf der Karriereleiter greifen wollen. Um aber Aufgaben anzugehen und Ziele zu erreichen, brauche es einen gewissen Grad der Unzufriedenheit, schreiben die Forscher. Warum auch etwas ändern und den Hintern hochbekommen, wenn schon alles spitze ist? Daraus speist sich also der demotivierende Effekt der Meditation, den die Psychologen beobachtet haben wollen. (https://carlsonschool.umn.edu/sites/carlsonschool.umn.edu/files/faculty/publications/hafenbrack_vohs_2018_obhdp_mindfulness_weakens_motivation.pdf).
Hmm ... hierzu ließe sich so manches sagen. Ich nehme diese Studie zum Anlass, eine Beobachtung mit dir zu teilen. Ich erlebe, gerade auch bei jüngeren spirituellen Menschen, dass diese nicht so recht ins Leben kommen. Ich höre von ihnen, dass sie Angst haben, von der Arbeit aufgefressen zu werden, keine Zeit mehr zu haben, um ihre Spiritualität zu leben, zu meditieren und ein spirituelles, meditatives, achtsames Leben zu leben.
Stirb als Ich, um als ICH geboren zu werden
Ich meine, dass hier etwas falsch verstanden wird. In meinen Augen ist durchaus ein Ziel der Meditation, der Kontemplation, also der geistigen Innenschau, der geistigen Versenkung - sich selbst loszulassen. Aber wozu? Wenn ich mich selbst loslasse, dann kann Gott in mir Raum finden. Wenn das Ich stirbt, wird das ICH geboren. "Die Freiheit vom Ego" ist das Ziel aller spirituellen Wege. Mir scheint, dass für manche diese Freiheit vom Ego darin besteht, dass sie noch nie ihr Ego ausreichend in sich gespürt haben.
Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung schreibt, in der ersten Lebenshälfte solle man ein starkes Ego entwickeln. Ein Ego kämpft für das Leben. Es setzt sich durch. Es schafft etwas im Leben. In der zweiten Lebenshälfte geht es dann darum, dass Ego loszulassen, sich etwas Größerem zu überlassen. ABER - wer nie ein Ego, ein starkes Selbst aufgebaut hat, kann es auch nicht loslassen. Also: Zu früh den Himmel zu stürmen und das Irdische zu überspringen führt nicht ins Leben hinein, sondern ist eine Flucht vor dem Leben. Um die Lebendigkeit des eigenen Leibes und der Seele nicht zu spüren, stürmt man in den Himmel. Hingegen sind die Aufgaben der ersten Lebenshälfte, sich der eigenen Aggression, der eigenen Sexualität, der eigenen Leidenschaft zu stellen.
Meiner Erfahrung nach ist diese Flucht vor dem Leben, das Kreisen um sich selbst, ein Zeichen von Egozentrik. Vor lauter Loslassen des Egos, nicht wahrzunehmen, wie sehr man gerade sein Ego pflegt. Sich als etwas Besonderes fühlen - und sich zugleich weigern, sich auf das konkrete Leben einzulassen.
Arbeit und Gebet
Sind Arbeit und Gebet Gegensätze? Ich meine, nein. In beiden Bereichen geht es darum, vom Ego, dem kleinen Selbst zunehmend freier zu werden und mehr aus dem im ICH-Sein zu handeln. Sich auf Gott einlassen und sich auf die Arbeit einlassen führt in die gleiche Richtung. Ich lasse mich ein, ich vergesse mich selbst. Ich arbeite in Freude, meine Energie fließt. FLOW! Flow erfahre ich da, wo ich mich in meiner Arbeit vergesse, mich ganz einlasse. Flow bedeutet nichts anderes als HINGABE.
Hoffnung
Lieber Mensch, es ist nicht meine Absicht, hier den einen oder anderen zu kritisieren. Ich versuche, Tendenzen zu beschreiben, die ich in Gesprächen mit vielen Menschen wahrgenommen habe. Meine Absicht hingegen ist, Denkanstöße zu geben - und eben auch die Einladung an dich, meine Worte zu überprüfen. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist es, dass du, der Leser, die Leserin , beim Lesen mit deiner eigenen Kraft in Berührung kommst, dass du Lust verspürst, dein Leben zu wagen, anstatt es zu versäumen; ein Leben möglichst frei vom ängstlichen Kreisen um sich selbst; Hoffnung auf ein erfülltes und gelingendes Leben - auf ein Leben der Hingabe und der Liebe.
Verwandlung
Verwandlung ist meine Antwort auf das hektische Bemühen um ständige Veränderung, um Selbstoptimierung, die viele Menschen auf ihrem spirituellen und therapeutischen Weg umtreibt. Veränderung hingegen hat in meinen Augen eine eher aggressive Note. "Ich muss ganz anders werden." In der Veränderung kann auch eine Ablehnung meiner Selbst liegen. Ich bin so, wie ich bin, nicht gut. Verwandlung ist sanfter. Alles darf sein. Ich würdige mein Leben, so wie es ist, auch mit all dem Versäumten. Und zugleich bin ich voller Hoffnung, dass GEIST in mir alles verwandelt und in die einmalige Gestalt hineinbildet, die ich von meinem tiefsten Wesen und Ursprung her bin.
Sonniges + Herzliches, Ihre und deine