Wir leben heute in der komplexesten Welt, die es je gab. Das globalisierte und digitalisierte Zeitalter liefert uns eine unüberschaubare Menge an Daten und Informationen. Doch je mehr wir wissen, umso weniger scheinen wir zu wissen, was wir tun sollen. Ist unser Leben heute so komplex geworden, dass wir es nicht mehr verstehen geschweige denn beherrschen können?
Diesen Sommer verbrachte ich einige Tage auf einer Alm. Die Menschen, denen ich dort begegnete, würde ich als auf dem Weg einer zunehmenden Bewusstheit bezeichnen, als alternativ, ökologisch sensibilisiert und spirituell interessiert. Bis eines Abends das Gespräch auch politische Themen streifte. Und zack - vorbei war es mit der achtsamen Ruhe. Eine junge Frau vertrat die Sichtweise, dass die Medien ja sowieso alle manipuliert seien und man somit niemanden trauen könne. Auf meine Frage, wie sie denn zu dieser Ansicht komme, blieben weitere Erklärungen aus. Später äußerte ein anderer in der Runde die Behauptung, dass wir Deutschen nur auf den Nationalsozialismus reduziert würden und dass die gesamtdeutsche Geschichte an den Schulen kaum gelehrt werde. Ein guter Freund von mir, ebenfalls in der Runde, bemerkte, dies entspräche nicht den Tatsachen, er und seine Kollegen unterrichteten seit Jahrzehnten Geschichte. Dieser Hinweis schien mir keine Wirkung zu zeigen. Was ist hier los?
Ja, ich kann die Verstimmung dieser beiden Menschen, ihr Unbehagen, ihre Hilflosigkeit verstehen. Ein Unbehagen, das in unserer zunehmend unüberschaubareren Welt nach Orientierung, Sicherheit und Klarheit zu suchen schien. So blieb ich zurück mit der Frage, wie es sein kann, dass sich Menschen, die scheinbar auf einem Weg wachsender Bewusstheit sind, sich in einer Weise äußern, wie ich es eher von AfD-Anhängern erwarten würde?
Weniger Fakten und mehr Gefühle
In dem Sturm von Nachrichten, die auf uns alle einprasseln, spüre auch ich schnell ein Gefühl des Überwältigtseins. Wem kann ich glauben? Wem kann ich vertrauen? Und auch wenn ich hier die Antwort finde, eher dem Bericht der "ZEIT" zu vertrauen als einem Russian-Today-Video, bleibt dennoch die unglaubliche Fülle an verstörenden Nachrichten.
Wir leben in einer global vernetzten Welt, in der alles mit allem zuinnerst zusammenhängt. Die Weisheit des Buddhismus, des Verbundenseins, des bedingten Entstehens aller Phänomene, zeigt sich uns in jedem Augenblick. Diese Komplexität kann überfordern und zugleich verleiten zu einfachen, zu vereinfachenden Antworten - zu Verschwörungstheorien, Feindbildern oder eben zur Vermeidung dieser Komplexität.
Postfaktisch
Der Begriff der "postfaktischen Zeit" macht die Runde und sagt aus, dass im heutigen gesellschaftlichen Diskurs immer weniger Fakten zählen, sondern Gefühle. Trump, die AfD oder jüngst die Diskussion um den Fußballer Mesut Özil machen diese Gefühle zu ihrem Programm. Menschen in Deutschland fühlen sich von den Ausländern bedroht, obwohl es zum Beispiel im Osten Deutschlands davon wenige gibt, oder vom Islam, den man zum Teil gar nicht kennt. Diese Geisteshaltung, die "Gefühlsdemokratie", kann sich meines Erachtens auf fatale Weise mit einer spirituellen Haltung verbinden, die das Herz gegen das Denken ausspielt. Viele spirituelle Lehrer fordern dazu auf, sich wieder mit dem Fühlen zu verbinden. Ich meine, dass dies auch schiefgehen kann und nur einen Teil der Wirklichkeit berücksichtigt.
Meine Frage: Erschüttert viele Menschen die momentane Welt, zu viel Drama, zu viel Unsinn, zu viel Wahnsinn so sehr, dass sie sich abwenden - oder sind wir einfach zu selbstbezogen, als dass es uns wirklich etwas ausmachen würde? Oder ist diese vereinfachende, losgelöste oder unbeteiligte Haltung (ist ja sowieso nur alles eine Illusion ... ) als ein möglicher Schatten auf dem spirituellen Weg anzusehen?
Spirituelle Praxis verheißt ein Erfahren innerer Ganzheit und Einfachheit inmitten einer chaotischen Welt. Und ja, diese tiefe Stille, dieses Einssein, welches die wahre Natur des Bewusstseins ist, kann uns tiefen Frieden und Erfüllung schenken. Nur - was machen wir mit dieser Erfahrung, wenn wir in die Welt des 21. Jahrhunderts treten? Sind wir bereit uns mit dieser inneren Ganzheit einer leidenden, unübersichtlichen, vielschichtigen Welt zu stellen? Sind wir bereit unseren Platz zu finden, um daran mitzuwirken, dass in dieser Komplexität umfassende menschliche Werte wie Mitgefühl und Verbundenheit gelebt werden und dadurch zu heilsamen Veränderungen führen?
Ich beobachte, dass viele Menschen sich zunehmend sozial engagieren, bei der"Tafel" für Bedürftige, in der Obdachlosenarbeit, in der Hospizarbeit. Mit anderen Worten, wir werden zunehmend besser darin, Ertrinkende aus dem Fluss zu retten. Werden wir aber auch besser darin zu fragen, warum überhaupt so viele Menschen in den Fluss fallen?
Ich meine, nur wenn wir den größeren Kontext und die systemischen, komplexen, verwobenen Ursachen von Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Unmenschlichkeit verstehen, nur dann können wir in uns eine Kraft formen, die die Radikalität und die Klarheit besitzt, nachhaltig unsere Welt zu verändern.
Meditieren für den Weltfrieden
Und ja, meines Erachtens kann man mit "subtilem Aktivismus", einer Aktivität des Bewusstseins und des Geistes, wie Meditation und Gebet kollektiven Wandel unterstützen. Seit Anbeginn der Zeit haben Weise, Heilige, spirituell Übende ihre Praxis dem Wohl der Menschheit gewidmet. Und dennoch, so einfach ist es nicht. Ich meine, dass subtiler Aktivismus, nicht die Antwort ist. Ich sehe hier eine potenzielle Falle, denn er könnte als Rechtfertigung verwendet werden, sich von den Belangen der Welt fernzuhalten
Und nun?
Was kann man tun? - Was mache ich damit? Ich übe mich darin, die Komplexität der Welt und unser aller Verflechtung mit ihr anzuerkennen und hier öffnet sich in mir ein Raum des Nichtwissens, in dem ich zunächst nicht weiß, was zu tun ist. Liegt in dieser Lücke des Nichtwissens die Quelle der Antwort? Ich meine, die Fülle der Nachrichten und Meinungen deckt diese Räume zu. Ich beobachte wie schnell ich von einer Meldung zur anderen scrolle, ohne diese Lücke zuzulassen, in der allein Berührung möglich ist. Wenn ich nachspüren kann und will, was Menschen bei einer Bombardierung oder auf der Flucht empfinden, dann kann daraus ganzheitliches Handeln entstehen. In dieser Verletzlichkeit, in diesem Nicht-Wissen liegt ein sich tieferes Einlassen auf das Leben. Das Vergegenwärtigen meines Nichtgetrenntseins mit der Welt in all ihrer Komplexität, ihrem Schrecken, ihrem Chaos und ihrer Herrlichkeit. Indem ich aus dieser Verbundenheit lebe, im offenen Raum der Verletzlichkeit, können sich Antworten zeigen.
Das Paradox
Für Gerechtigkeit eintreten, bei Konflikten vermitteln, Verwundete heilen, Gefährdete beschützen, Menschlichkeit zeigen. Säen für die unabsehbare Zukunft. Und zugleich in das Geheimnisvolle vertrauen, zu hören, ohne zu reagieren, denn das einfache Zuhören, indem wir erlauschen, was gerade erforderlich ist, regt tiefere Kräfte an. Wissen, dass ich nicht weiß.
Herzlichst, Ihre und eure