Nach fünf Tagen ist mir Jerusalem immer noch fremd und ich frage mich, warum ich hergekommen bin und was ich hier suche. Selbst das Christliche ist mir hier fremd. Die Grabeskirche ist überfüllt mit Touristen, sie suchen Jesus, jeder auf seine Weise. Mit Kameras, mit Küssen auf die Grabplatte, in kurzen oder langen Gewändern. Ich meine, die große Last dieser Stadt fühlen zu können. So viel Vergangenheit, so viele Bezüge, die geltend gemacht werden.
Vom Suchen ...
Ich bin auf der Suche nach Martin Buber und höre mich denken, wie er es wohl erlebt haben mag, als er 1938 mit sechzig Jahren hier einen Neuanfang wagte. Hat Martin Buber im heutigen Jerusalem noch eine Bedeutung? Kennt man ihn? Liest die israelische Jugend seine Werke? Von seinen dialogischen Gedanken? Und findet sie darin vielleicht etwas, was über das Orthodoxe hinausweisen könnte, hin zu einem liberaleren und vielleicht „echteren“ Umgang miteinander? Jeden Morgen frühstücke ich in einem anderen Coffeeshop. Und jeden Morgen frage ich den immer jungen Mitarbeiter hinter der Theke, ob er Martin Buber kennt. Am vierten Tag dann blickt mich der junge Mann fragend und erstaunt an, nickt und verweist mich auf seinen Vater. Am späten Mittag sitze ich dann gemeinsam mit ihm und seinem Vater in einem kleinen koscheren Restaurant. Der alte jüdische Herr segnet das Brot, bevor er es mir anbietet, indem er Salz auf den Tisch streut und mit dem Brot in seinen Händen Bewegungen darüber vollzieht. Dieser Moment hat etwas für mich Schönes, Berührendes. Und ja, sagt er, natürlich kenne er Martin Buber. Und ja, er habe seine Schriften gelesen, falls ich mehr wissen wolle, an der Universität würde ich Antworten auf alle meine Fragen finden. Genau dort will ich aber nicht suchen.
„Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in ihrer Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche Fruchtbarkeit. Das Wort ersteht Mal um Mal substantiell zwischen den Menschen, die von der Dynamik eines elementaren Mitsammenseins in ihrer Tiefe ergriffen und erschlossen werden. Das Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene.“
Martin Buber lebte in Talbiye, einem vornehmen, wohlsituierten Stadtteil Jerusalems, in der Hovevei Zion Street, Hausnummer drei. In der Straße sieht es eher europäisch aus. Große Bäume säumen die Fußwege und Villen reihen sich aneinander. Es unterscheidet sich hier nur wenig von bestimmten Vierteln in München, Frankfurt oder Berlin. Das Haus ist umgeben von einem schwarzen Metallzaun, am Klingelschild steht steht ein deutscher Name. Kein Schild verweist darauf, wer hier einmal lebte.
Der Mensch wird erst am Du zum Ich
Und dann begegnet mir Martin Buber doch noch. Ausgerechnet am Shabat, an dem die Stadt lahmliegt, keine Straßenbahnen fahren, kaum Autos auf den Straßen sind und fast alle Geschäfte geschlossen haben. Das Israel Museum hat geöffnet, unglaublich vielseitig ist die Sammlung moderner Kunst und alle namhaften Größen hängen an den Wänden. So viele berühmte Gemälde an einem Ort habe ich noch nirgends gesehen. Und ganz plötzlich blickt mich Martin Buber an. Von Andy Warhol eingebettet zwischen anderen jüdischen Geistesgrößen blickt er aus Blau und Grün, mit rot umspielt. Es sind europäisch-westliche Kontexte, in denen ich mich gerade bewege und ich fühle mich hier im Museum auch mehr zu Hause und in dem mir Vertrautem als im Rest der Stadt.
So wird mir das Bild von Buber im Museum zum Bild von Buber im heutigen Israel. Man kennt ihn als Gelehrten in Gelehrtenkreisen sowohl in Deutschland als auch in Jerusalem. Aber die Breite der Buber-Kenner und Bekenner, die es mittlerweile in Deutschland gibt, finde ich in Jerusalem nicht. Ich beobachte in Deutschland eine weiterhin zunehmende Bedeutung des Werks von Martin Buber, finde häufig Bezugnahmen zum „Dialogischen Prinzip“. Bubers Gedanken werden aufgenommen und weitergedacht.
Und vom Finden ...
An einem meiner letzten Abende führe ich eine langes Gespräch mit einem ehemalig orthodoxen Juden, der sich mittlerweile von seinen jüdischen Wurzeln, seiner Ehe und den vielen jüdischen Alltagsregeln verabschiedet hat. Er berichtet mir von seiner Ahnung von einer „anderen Art des Glaubens“. Er glaube an den Menschen, an Begegnung, an Dialog. Auf meine Frage nach der Zukunft Israels antwortet er mit einem:“ Keine Ahnung. Ich glaube nur an Liebe und Frieden.“ Und diese Antwort erscheint mir für diesen Augenblick die einzig richtige. Er meint es ernst, nicht sentimental. Er antwortet auf meine Fragen nicht zuvorkommend, nicht bequem, nicht intellektuell, aber ehrlich. Er hält nicht zurück, was er fühlt, denkt, erlebt, sieht, nicht weiß, ihm fragwürdig und ungewiss erscheint. Er enthält sich nicht, er stellt sich ganz zur Verfügung für den anderen. Und ich denke an Martin Bubers Übersetzung des Gottesnamens:“ Ich werde da sein, als der ich da sein werde.“
So hat sich Jerusalem doch noch zu etwas mir Persönlichem entwickelt. Dieses innerliche Füllen der Stadt ist zustande gekommen durch eine konkrete Begegnung mit einem Menschen. Im Nachhinein erstaunt es mich nicht mehr so sehr, weil es mir eigentlich klar war - weil es meinem Weltbild gemäß war, weil die alten Mauern der historischen Stätten geschwiegen haben und mir nur durch menschliches Wort gesprochen wurde. Somit ist mir Martin Buber doch noch begegnet. Bubers Gedankengebäude ist es immanent, dass Ich- und Du-Erfahrungen nur individuell gemacht werden können. Jenes, wovon er kündet, bewegt sich in größeren Zusammenhängen als dem rein philosophischen Diskurs, dem Denken. Buber nennt es „die Substanz der Welt“, welche Beziehung ist. Und alle Substanz sei wesenhaft erfahrbar, aber nicht auffindbar. Mit Martin Bubers Worten gesprochen:
„ALLES WIRKLICHE LEBEN IST BEGEGNUNG.“
Herzlichst