MAN WEINT UM DIE, DURCH DIE MAN IST, WIE MAN IST

Lieber Mensch, 

wir alle wissen, dass zu unser aller Leben die Geburt und auch der Tod gehört. Die Geburt eines Kindes wird gefeiert - über den Tod hingegen wollen die meisten Menschen nicht einmal sprechen. Meine Arbeit bringt es mit sich, dass auch das Sterben und der Tod ein Teil von ihr sind ….. 

Der kleine Prinz sagte: “Hier ... das ist alles ... .” Er zögerte noch ein bisschen, dann erhob er sich. Er tat einen Schritt. Ich konnte mich nicht rühren. Es war nichts als ein gelber Blitz bei seinem Knöchel. Er blieb einen Augenblick regungslos. Er schrie nicht. Er fiel sachte, wie ein Baum fällt. Ohne das leiseste Geräusch fiel er in den Sand. Und jetzt sind es gewiss schon wieder sechs Jahre her ... Jetzt habe ich mich ein bisschen getröstet. Das heißt ... nicht ganz. Aber ich weiß gut, er ist auf seinen Planeten zurückgekehrt, denn bei Tagesanbruch habe ich seinen Körper nicht mehr wiedergefunden. Es war kein so schwerer Körper ... Und ich liebe es, des Nachts den Sternen zuzuhören. Sie sind wie fünfhundert Millionen Glöckchen ...
— Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz

Einen Sterbenden begleiten

In meinen Augen geht es vor allem darum, für den Sterbenden da zu sein, vorbehaltlos und achtsam. Das eigene Herz zu öffnen, mitzufühlen und zu versuchen sich einzuschwingen auf die Bedürfnisse des Sterbenden. All die eigenen Belange zurückzustellen, Bereitschaft zum Gespräch zu signalisieren und auf alle Fragen und Themen des anderen einzugehen. Meiner Erfahrung nach spüren Sterbende Unaufrichtigkeit sofort, ihr Bewusstsein ist häufig viel klarer und ihre Wahrnehmung viel feiner. Somit sind in der Begleitung Wahrhaftigkeit und Offenheit gefragt.

Ein Wandel der Form

Der Satz „Du darfst jetzt gehen!“, einfach ausgesprochen, hilft dem Sterbenden loszulassen. Denn dieser sorgt sich genauso um die Zurückbleibenden, so wie sich die Familie um den Sterbenden sorgt. Eine gute Sterbebegleitung bedeutet in meinen Augen auch immer, nicht zu klammern, sondern den Versuch des Annehmens des Sterbegeschehens. 

Die Wahrnehmung des Sterbenden verändert sich, denn der Sterbende erlebt eine Bewusstseinserweiterung, je mehr sich die Seele vom Körper löst - er ist fähig, die Präsenz der geistigen Welt zu erleben, oft verbunden mit dem Wunsch nach Aussöhnung, Vergebung, Selbstvergebung und der Erkenntnis der eigenen Verantwortung für sein gelebtes Leben. Dies alles sind Schritte der Annäherung an die LIEBE, die sich im Inneren des Sterbenden beginnt auszubreiten. Sterben ist ein Wandel der Form und verbunden mit dem Erwachen in die LIEBE.

Mit der eigenen Trauer umgehen

Gehemmter Schmerz, wie ein verschlossner Ofen, verbrennt zu Asche die verschlossene Brust.
— William Shakespeare

Ich meine, es gibt Anhaltspunkte, was hilfreicher im Umgang mit der eigenen Trauer sein könnte und was eher nicht: Lass zu, den Schmerz in all seiner Tiefe und Wucht zu spüren. Vertraue in dich und deine Fähigkeiten. Sei sanft mit dir und hab´ Geduld.  Öffne dich dem Leben - denn dein Leben wartet auf DICH. Übe dich in Dankbarkeit. Erlaube dir zu lachen. Lerne ohne den anderen zu leben - und beginne ein neues Leben - und nicht von vorne. Teile mit anderen deine Erfahrungen. Erkenne, dass es keinen vorgezeichneten Weg gibt - dein Weg entsteht beim Gehen. 

Sinn, Wachsen und Liebe

Ich meine zu wissen, dass fast jeder, der sich mit dem Sterbegeschehen an sich intensiver auseinandersetzt, in aller Deutlichkeit erkennt und erfährt, dass hinter allem Sein eine Urkraft steht, aus der wir kommen und in die wir nach unserem irdischen Leben zurückkehren. Diese Kraft, die ich Gott nenne, ist reines Bewusstsein, Liebe und als Essenz des Lebens an sich in jedem Menschen vorhanden. 

Ich meine, die Zeit des Sterbens ist eine ganz besondere Zeit. Eine schmerzliche Zeit, aber vor allem eine so kostbare. Jede Stunde, die ein Sterbender mir erlaubte, sie mit ihm zu teilen, war ein Geschenk - an mich. Immer wieder werde ich in diesen Momenten gefragt, vom Sterbenden selbst oder von seiner Familie, ob ich denn wirklich an Gott glaube. Ich kann diese Frage eindeutig mit Ja beantworten. Gott ist für mich allgegenwärtiges Sein, das Diesseits und das Jenseits umfassend.  Mystiker und Menschen mit Nahtoderfahrungen beschreiben ein feines, subtiles Licht, welches eine Liebe ausstrahlt, die wir so nicht kennen - keine Strafe und keine Verdammnis. Ich meine, unabhängig davon, ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht, ist jeder Einzelne von uns von SEINER Präsenz durchdrungen. Keine Seele kann verloren gehen. Kein Tod ist zufällig. Der Tod ist ein Wandel der Form, doch die geistige Essenz des Menschen bleibt davon unberührt.

Lieber Mensch, vermagst du zu erahnen, auf was ich versuche zu deuten mit meinen Worten? Mit meinen Worten, die versuchen unsichtbare Brücken zu spannen, von dir zu Menschen und Dingen. Von der Luft zu deinem Atem. Zu deinem Baum, den du liebst. Zusammen im Atemhaus wohnen - eine Menschenblumenzeit. 

Herzlichst